HEIMAT X MENSCH

HEIMAT X MENSCH ist ein Kulturprojekt auf der Suche nach den unterschiedlichen, individuellen Definitionen des Begriffs Heimat.

Was passiert, wenn ein Fotograf (Michael Liebert), ein Designer (Stefan
Radinger) und eine Kommunikations-Allrounderin (Birgit Wagner)
aufeinandertreffen? Sie entwickeln ein Kulturkonzept!

Im Mostviertel gibt es eine Vielzahl bekannter Persönlichkeiten. Sieben von ihnen haben wir im Frühling 2021 getroffen, um sie einerseits für unser Projekt HEIMAT X MENSCH zu portraitieren aber um andererseits auch mit ihnen über Heimat zu sprechen. Ihre ganz persönlichen Geschichten in Wort und Bild nachstehend.

Text: Birgit Wagner
Fotografie: Michael Liebert
Erwin Wagenhofer-

Erwin Wagenhofer

Am wohl ersten wirklich frühlingshaften Tag Ende März 2021 treffe ich gemeinsam mit dem Fotografen Michael Liebert den österreichischen Filmemacher Erwin Wagenhofer. Wir treffen uns beim Autohaus seines Vertrauens, weil sein Wagen ins Service muss. Effizientes Time- und Termin-Management. Wagenhofer steigt bei mir ein und wir fahren im Corso Richtung Neuhofen an der Ybbs.

Schon auf der Fahrt plaudern wir. Wagenhofer zu begegnen ist einfach. Die Gespräche nicht erzwungen. Wir halten an einem Ort seiner Kindheit. Eine typische Allee aus Mostbäumen führt zum Anwesen. Wir steigen aus den Autos und bewegen uns ein paar Schritte in die Allee. Plaudern. Lose. Ungezwungen. Noch gar nicht, um das eigentliche Thema, Heimat, zu verhandeln. Wir sprechen allgemein.

Erwin Wagenhofer erzählt, vom Klauben der Mostbirnen, vom ersten süßen Most, dem Herumklettern in den Bäumen. All das hat er an diesem Stück Land erlebt, war Teil seiner Kindheit. Zurück in die Autos. Wir fahren weiter an einen für Wagenhofer ebenfalls bedeutungsvollen Ort. Die kleinen Ortschaften lassen wir hinter uns. Wagenhofer sitzt wieder bei mir im Auto. Als wir auf Kröllendorf zusteuern und das Ortsschild passieren, erzählt mir Wagenhofer, dass sie in der Jugend immer mal einen Querstrich über das Doppel-L setzen wollten: Kröttendorf. Es entsteht Nähe.

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Erwin Wagenhofer ist ein in Wien lebender Filmemacher. Weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt. Seine Filme machen sichtbar, was nicht so ganz ideal in unserer Gesellschaft, in unserem Leben, unserer Zeit läuft. Mit dem Fokus darauf, wie man es anders machen könnte. Ohne dabei aber mit dem erhobenen Zeigefinger dem Zuschauer zu begegnen.

Wagenhofer kam im Mai 1961 in Amstetten zur Welt. Er hat drei Schwestern, die allesamt noch in der Region leben. Die Mutter auch, der Vater ist leider bereits verstorben. Während wir so durch das Mostviertel rollen, sagt er immer wieder, da lebt ein Onkel von mir und lässt mich die Dimension seiner Familie erahnen. Vor meinem geistigen Auge entsteht ein Familienverbund mit vielen Mitgliedern und vor allem, mit vielen Generationen. Wir halten beim Zaucha-Bauern in St. Leonhard am Walde. Die Bäuerin fragen wir, ob wir hier halten und die paar Schritte die Wiese hoch gehen dürfen. Denn dort steht bzw. verfällt ein Ort aus Wagenhofers Kindheit. Michael hat seine Kamera bereits ausgepackt und die ersten Fotos entstehen.
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Bewusst halten wir uns beide zurück und schweigen, um damit unserem Botschafter Raum und Zeit zu geben, sich auf diesen Ort und die Umgebung einzulassen. Zurückkommen, an einen Ort, der mit vielen Erinnerungen und Menschen verbunden ist, lässt einen immer all die Gefühle fühlen. Darauf kann man sich nicht vorbereiten.

Es ist ein kleines Haus, dass hier leider dem Wirken der Gezeiten überlassen wurde. Es ist nicht mehr im Besitz der Familie. Von außen wirkt es gemütlich. Alle drei, wir sammeln uns in der Stille. Gewähren Abstand. Vor der Haustüre bleibt Wagenhofer stehen, streckt den Arm und richtet den Zeigefinger auf ein Fenster oberhalb der Türe aus. "In diesem Zimmer ist mein Vater geboren", erzählt er uns. Das Hausschild - St. Leonhard am Walde 64 - ist gut sichtbar.


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An diesem Ort hat der bekannte Filmemacher einen Teil seiner Kindheit verbracht. Zu jeder Jahreszeit Kindsein dürfen. Nebenan stand noch ein zweites Haus. Heute existiert es nicht mehr. Es lässt sich nur ungefähr erahnen, welche Dimension es damals gehabt haben muss.

Wagenhofer versucht es für uns in Worten nachzuzeichnen. Während wir das Portrait fotografieren - hinten beim Stadl und beim Hollerbusch - kommt der Zaucha-Bauer. Beide kennen sich aus der Kindheit, sind nur ein paar Jahre voneinander getrennt. Man erinnert sich aneinander. Unterhält sich. Man spürt, dass hier zwei Welten aufeinander treffen, die doch einen gemeinsamen Nenner haben. Deren Leben diametral verschieden verlaufen sind. Der Zaucha-Bauer verkörpert Authentizität. Darauf kommen Wagenhofer und ich in unserem anschließenden Gespräch noch zu sprechen. Apropos Gespräch.
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Wir steigen ein mit drei Zufallsfragen. Die erste Frage ist ein Satz und lautet: Das letzte Mal betrunken war ich weil. Er überlegt kurz. Dann fällt es ihm ein: "Wir haben den administrativen Filmabschluss gefeiert. Der war relativ aufwendig und vor allem intensiv. Wir hatten das Budget überschritten und konnten uns nicht sicher sein, ob das alles so in Ordnung gehen würde. Es ging aber extrem gut aus und dies war für uns ein riesiger Grund zu feiern."

Nächste Frage, wieder ein Satz: Deine Lebensweisheit. Erwin Wagenhofer gibt zu, viele Lebensweisheiten zu haben. Für den Moment zitiert er aber Michaelangelo. Ein Zitat, mit welchem er auch seinen Film "But Beautiful" (2019) eröffnet hat:

„Die größte Gefahr für die meisten Menschen, besteht nicht darin, dass deren Ziel zu hoch gesteckt ist und sie es verfehlen könnten, sondern dass es zu niedrig ist und sie es erreichen.”
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Als drittes erwischt Wagenhofer tatsächlich mal eine Frage: Was beeindruckt dich? steht auf dem Zettel. "In erster Linie beeindrucken mich Menschen, die so bei sich sind, dass sie nicht mehr darüber nachdenken müssen, ob sie authentisch sind oder nicht", gibt er als Antwort. Und hier schafft er Bezug zur Begegnung mit dem Zaucha-Bauern, der für ihn absolute Authentizität verkörpert. Jeder von uns hat mit der Geburt automatisch einen Bezug zu einem Ort. Ob dieser aber Heimat wird, beantwortet im Lauf des Lebens jeder für sich selbst. Für unseren Botschafter stellt sich auch die Frage, ob sich abseits vom Geborensein auch anderweitig Bezüge herstellen lassen.

„Für mich ist Heimat überall dort, wo ich das Gefühl habe, akzeptiert zu werden und wo es lebendig ist"

Wir sitzen auf einer Wiese umgeben von Bäumen, 200 Meter Luftlinie vom Geburtszimmer seines Vaters entfernt. Ich frage Erwin Wagenhofer, ob der Ort mit ihm etwas macht. "Glückshormone werden ausgeschüttet, Erinnerungen kommen auf. Es kann zwar nicht alles auf einmal hochkommen, aber es ist da", sagt er und meint es auch so.
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Heimat, so sagt er es im Gespräch, ist im positiven Sinne auch ein anderes Wort für Liebe. Und natürlich im negativen Sinne auch für das Gegenteil davon.

Das Voralpenland schätzt Wagenhofer besonders. Für ihn gibt es hier Nahrung, Sonne und Glück. Mit nur wenig Ausstattung würde er hier recht gut zurechtkommen. Heimat ist für ihn auch das Voralpenland, welches er als Jugendlicher rennradelnd erkundet hat. Viele haben ihn damals für wahnsinnig erklärt. Da fährt einer Rennrad! Erkundet seine Umgebung! Bevor das überhaupt schon ein Trend ist!

Und weil er auf die Gegend aus zwei Perspektiven blicken kann, frage ich ihn, was sich für ihn verändert hat. Es ist die Bauwut, die ihn ehrlich erschreckt: "Da gibt es zum einen diese enorme Bauwut und zum anderen verfallen so viele Gehöfte und Häuser. Architektur hat auch damit zu tun, was kulturell passiert", erklärt er. Wagenhofer erkennt hier den Geist des schnellen Profits in den Speckgürteln der Städte und Ortschaften. Gebaut wird nicht mehr für die Ewigkeit. Gebaut wird schnell, geschaffen werden Energiefresser, die schlecht gemacht sind - ohne Bedacht auf die Architektur.

Man hätte noch Stunden weiterplaudern und diskutieren können. Die Umgebung gemeinsam entdecken können. Das Service beim Auto ist aber abgeschlossen und auch Michael und ich müssen weiter, die nächste Botschafterin fotografieren.

Alicia Edelweiss

Michael und ich treffen Alicia Edelweiss in Waidhofen an der Ybbs. Es ist 13 Uhr an einem Samstag im April. Blauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Die Gehsteige der Stadt sind bereits hochgeklappt. Wir Drei gehen in den Bioladen der Hoflieferanten und ergattern noch jeweils einen Becher warme Suppe, die wir draußen am Platz essen.

Vom Gefühl her ist es, als treffen sich drei Menschen, die sich schon längst gut kennen. Fakt ist, Alicia habe ich erst ein Mal gesehen. Bei einem Konzert im Bertholdsaal. Für das Treffen und das Gespräch habe ich mich erst tagszuvor vorbereitet. Handschriftliche Notizen ergänzen meinen Fragenkatalog.

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Alicia Edelweiss. Wie ihr Geburtsname lautet kann ich nicht sagen. Ich hätte sie fragen können, aber es erschien mir nicht wichtig und relevant. Daher bleibt sie in dieser Geschichte, in diesem Botschafter-Portrait mit ihrem Künstlernamen erwähnt.

Sie fährt bei mir im Auto mit, als wir von Waidhofen nach St. Georgen am Reith, einem kleinem Ort - aus unserer Warte aus - hinter Opponitz, aufbrechen. Wir unterhalten uns. Manchmal ergeben sich Pausen. Und manchmal beginnt Alicia am Beifahrersitz eine Melodie zu summen. Wir bewegen uns entlang der Ybbs fort. Es sind viele Radfahrer unterwegs.

In St. Georgen am Reith angekommen verschaffen wir uns einen Überblick. Wo könnte das Portrait-Shooting stattfinden? Wir queren eine Wiese. Etwas illegal, denn ein Schild weist deutlich darauf hin, dass das Betreten eigentlich verboten ist. Privatgrundstück. Am Ende der Wiese angekommen stehen wir an der Ybbs, die hier gemächlich und breit vorbeifließt. Alicia schlüpft aus den Schuhen und zieht die Socken aus. Michael beginnt zu fotografieren. Ich mach den Sherpa und beobachte.
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Im Gänsemarsch spazieren wir entlang der Ybbs flussabwärts. Alicia erzählt, dass sie hier als Kind mit ihren Geschwistern gespielt hat. Ins Mostviertel kam sie mit fünf Jahren. Die Familie zog im Haus der Oma ein. Es war eine Kindheit, die ruhig verlief. Dorf halt. Mit viel Natur und Draußensein. Jetzt steigt Alicia in die Ybbs.

„Es ist gar nicht so kalt",

ruft sie uns zu. Ich lasse mich aber zu einer Runde kneippen nicht bewegen. Meine Füße bleiben in den Socken und den Schuhen und vor allem auf trockenem Grund.

Michael ist ganz in seinem Element. Alicia bewegt sich fließend im Fluss. Nimmt Platz auf den Steinen, spielt mit dem Wasser, mit einem Ast. Ich gehe zurück zum Auto und hole ein Handtuch. Damit Alicia Edelweiss sich die Füße trocknen kann. Noch ein Foto am Rückweg zu den geparkten Autos - bei den kargen Bäumen. Jetzt gilt es einen Platz für das Gespräch zu finden.
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Wir fahren hoch zur Kirche, die gleich neben dem ehemaligen Heim für blinde Menschen steht. Der Weg, der von dort in den Wald führt ist aktuell leider gesperrt. "Da haben wir als Kinder sehr viel Zeit verbracht", sagt Alicia. Wir entscheiden uns, unten bei der "landesbesten Gulaschköchin" zu parken und von dort auf die andere Seite des Baches zu kommen. Wieder etwas illegal: die Brücke ist morsch, große Löcher zieren die Balken und rot-weiß-rotes Flatterband signalisiert deutlich eine Absperrung. Ich wage mich als Erste vor. Alicia und Michael folgen.

Unter dem großen Baum roll ich wortwörtlich den roten Teppich in der Wiese für die Musikerin aus. Wir nehmen Platz. Auch sie soll drei Zettel aus der mitgebrachten Box ziehen.

Wonach sehnst du dich, steht auf dem ersten Stück Papier. "Nach dem Reisen", schießt es aus Alicia. Zweiter Zettel: Darauf bin ich stolz. "Auf was ich Alles bereits erreicht habe. Und auf meine Kunst." Dritter Zettel: Mit dieser Person möchte ich einen Abend verbringen. "Mit einer Freundin die in Frankreich lebt und die ich nun schon sehr lange nicht mehr gesehen habe".
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Alicia Edelweiss ist in Klagenfurt geboren, als sie fünf Jahre alt ist zieht die Familie nach St. Georgen am Reith. Zur Oma. Hier ist ihr Vater aufgewachsen. Ihre Mutter ist Britin. Die Freiheit am Dorf hat sie sehr genossen. Ihre Kindheit beschreibt sie als sorgenfrei. Zu Schule ging sie später in Waidhofen an der Ybbs, wo die Familie ein Haus gebaut hat.

„Es ist vielleicht etwas hart, aber außer die Jahre bei meiner Oma, war das Leben hier im Mostviertel eigentlich sehr unangenehm",

gibt sie im Gespräch offen und ehrlich zu. Die Mentalität und der fehlende Zugang zu (Sub-)Kultur und ähnlich tickenden Menschen machte ihr zu schaffen. Für Alicia Edelweiss war der Weg nach Wien nach der Matura befreiend.

Mit 19 zog sie los. Im Gepäck wenig und eine Gitarre. Sie machte sich als Straßenmusikerin auf den Weg durch Europa. Sie startete in Wien mit einem polnischen Pärchen. Diese Reise sollte weitestgehend geldfrei sein. Zwei Jahre war Alicia Edelweiss unterwegs, reiste ohne Geld, schlief in besetzten Häusern und auf Sofabänken ihr unbekannter Gastgeber und ging dumpstern. Mit dem Geld, dass sie durch die Straßenmusik verdiente, kaufte sie sich Essen. Es war ein einfaches aber reiches, gutes Leben. Ich frage Alicia nach den Highs und Lows der Reise. Zu den Highs zählen das Autostoppen, das Gefühl von Freiheit und die physische Distanz zur ja vielleicht kann man es so sagen: zur Heimat. Zu den Lows zählt sie die Einsamkeit, die sie manchmal spürte und einige unschöne Erlebnisse, vor allem in Barcelona.
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Heute lebt, schafft und studiert Alicia in Wien. Bei Voodoo Jürgens war sie Akkordeonistin. Damals, auf ihrer Reise, in Portugal hat sie sich entschieden ihre eigene Musik zu machen. Womit sie bereits erfolgreich ist.
Österreichisch hat sie sich nie gefühlt, das wächst erst langsam. In einem Land zu leben, wo die gleiche Sprache gesprochen und vieles einfacher ist. Aber Zuhause, so sagt sie es, würde sie gerne überall sein.

Für Alicia Edelweiss stehen die Menschen, die um sie rum sind und ihr ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln, für Heimat. Auf ihrer 2-jährigen Reise wurde ihr dieses Gefühl immer wieder zugespielt - sei es in Granada oder auch in Portugal. Heimat, das ist für sie auch sich den Menschen verbunden zu fühlen.

Lois Lammerhuber

Endlich haben wir es geschafft und wir telefonieren. Mit Lois Lammerhuber am Telefon. Unser Gespräch findet ausnahmsweise nicht im Rahmen des Portrait-Shootings statt. Aus den geplanten 15 Minuten werden 72. Es gibt aber auch viel zu erzählen.

In den knapp eineinhalb Stunden tauche ich ein in den Werdegang von Lois Lammerhuber. Dass er zufällig zur Fotografie kam und vor allem, wie er für sich Heimat definiert. Es ist ein spannendes Gespräch, ich höre zu. In meinem Kopf entstehen Bilder zu den Reisen Lammerhubers.

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Geboren 1952 in St. Peter in der Au als der Ort noch keine Straßennamen hatte. Der Vater ist Briefträger, die Mutter Hausfrau. Es sind einfache Verhältnisse in denen Lois Lammerhuber aufwächst. Der Volksschullehrer rät den Eltern den Bub auf das Gymnasium zu geben. Hier kam nur das Stift Seitenstetten in Frage, Amstetten ist damals zu weit gewesen.

So kommt Lammerhuber als Externist zu den Benediktinern. Es ist der Ort, an den Michael ihn auch für unsere Botschafter-Kampagne fotografiert. Denn die Eisheiligen machten uns wettertechnisch einen Strich durch die Rechnung. Draußen, beim Voralpenblick unter der großen Buche zu fotografieren, war nicht möglich. Also dann da, wo Lammerhuber die Unterstufe und somit vier Jahre seiner Schulzeit verbrachte.

Er selbst bezeichnet diese Zeit als eine, wo viel passiert ist. Im Stift Seitenstetten hat er gelernt, sich in Klöstern und Kirchen zu bewegen, zu verhalten. Es sind Orte, an denen er sich sicher fühlt, obwohl er gar nicht religiös ist. Sein erstes Geld verdient er beim Wirten, wo er für zehn Groschen die Kegel der Bahn aufsetzt.
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Lammerhuber maturiert in Amstetten und weil ihm der Kondensstreifen über dem St. Petener Bad nicht ganz geheuer war, entschied er nach Wien zu gehen. Hier lernt er auch seine Frau kennenlernen, deren Wurzeln in Wolfsbach liegen. Heute leben sie in Baden bei Wien.

Lammerhuber war (ist) viel auf Reisen. Für eine Urlaubsreise nach Sri Lanka Anfang der 1980er-Jahre borgt er sich vom Bruder die Kamera aus und legt damit nichtwissend den Grundstein für seine Karriere. Sein Bruder, der für ein Magazin in Wien arbeitet, empfiehlt Lois sich an den Fotoredakteur zu wenden und ihm die Bilder anzubieten. Der Redakteur fand Sri Lanka nicht so spannend, Karibik hätte er gerne gehabt. Schlussendlich verkauft Lammerhuber die Bilder, die er in Mexiko gemacht hat, wo er einige Zeit unterwegs war. Auch den Text lieferte er für den Reisebericht. So ging es von einem Job zum nächsten, obwohl er selbst noch keine eigene Kamera besaß.

Seine nächste Station führte ihn zum WIENER wo auf 25 Seiten ein Bericht über Amerika erschien. Denn Lammerhuber lebte dort für zwei Jahre und war auf dem Pan-American Highway unterwegs. Der Redakteur verfasst einen Bericht, der auf den Erzählungen und Tagebucheinträgen von Lois Lammerhuber basiert. Danach ging es los. Und der Neo-Fotograf nach München.
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1985 betritt er zum ersten Mal die GEO-Redaktion in Hamburg. Aufgeregt und mit einem Best of an 80 Bildern im Gepäck. Der Termin war vernichtend, endete aber immerhin mit der Einladung: "Wenn sie mal eine gute Idee haben, dann schreiben sie ihrer Redakteurin." Lammerhuber beginnt wöchentlich eine Idee einzureichen. Es vergeht ein Dreivierteljahr ehe er das Interesse von GEO mit einer Geschichte zu Ecuador weckt. Auf eigene Kosten reist er nach Südamerika, fotografiert und recherchiert. Lammerhuber fotografiert ab nun regelmäßig und häufig für das beliebte Magazin.

Wenn jemand so viel gereist ist und im Jahr mehr als 30 mal in den Flieger steigt, wie ist da die Sicht auf Heimat? Für Lammerhuber ist das überraschend einfach:

„Da wo ich gerade bin, da ist für mich Heimat. Da wo gerade mein Laptop steht, da bin ich daheim."

Sein Blick auf die Heimat hat sich trotz der vielen Reisen nicht verändert. So würde Lammerhuber nie für die Heimat in den Krieg ziehen, sie verteidigen. Für ihn gibt es ein höheres Gut als Heimat: sein eigenes Leben. Lammerhubers Sicht auf Heimat empfinde ich als spannend. Er ist konsequent, pragmatisch und rational.
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Das Mostviertel ist seine angeborene Heimat. Jeder hat so eine. Dieses Stück Erde hat er sich erlernt. Anlass war eine Reportage über die Mostbirne für das GEO-Magazin. Dafür ist er viel durch das Mostviertel gefahren, um Motive aufzuspüren. Die Menschen der Region waren der Einstieg und machten es dem Fotografen einfach, sich die Umgebung zugänglich zu machen. Sie sich zu erschließen und schlußendlich sich darauf einzulassen.

Zum 95. Geburtstag seiner Mutter bekommt diese ein Buch von ihm. Die 999 Stück, die davon zusätzlich produziert wurden, sind heute vergriffen. Das Buch trägt den Titel "Die schönste Landschaft der Welt" und ist eine Liebeserklärung an das Mostviertel. Denn die Landschaft und Topografie empfindet der weit gereiste Fotograf als einzigartig. "Vor der ersten Heumahd hat es die Anmutung einer überdimensionalen natürlichen Parklandschaft", erklärt Lammerhuber.

Man hätte jetzt noch lange weiterplaudern und diskutieren können. Es gäbe da noch so viel zu sagen, zu erzählen, zu entdecken. Aber ich muss Lois Lammerhuber bremsen.

Theresia Palmetzhofer

Es ist nachmittags, an einem Freitag. Die Kraft der Frühlingssonne kann man heute deutlich spüren. Fotograf Michael Liebert und ich holen unsere HEIMAT X MENSCH-Botschafterin, die dreifache Haubenköchin Theresia Palmetzhofer bei ihr im Gasthaus "Zur Palme" in Neuhofen an der Ybbs ab. Sie trägt ihre Kochjacke, ein Vintage-Gilet in Neonfarben, hat einen Weidenkorb und die Kräuterschere in der Hand. Michael zückt bereits die Kamera.
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Zu Fuß gehen wir einige Meter vom Gasthaus zu einem Platz, der auch heute noch bei Theresia Palmetzhofer ein gutes Gefühl auslöst. Hier hat sie in ihrer Kindheit mit ihren Freunden Lager gebaut, getobt und den Platz gegen die Kinder auf der anderen Seite des Baches verteidigt.

„Wir waren jeden Tag draußen. Von nach dem Mittagessen an bis zum Abendläuten der Kirchenglocke",

erinnert sich die Haubenköchin. Heute kehrt sie an diesen Platz gerne zurück, um die Seele baumeln zu lassen, um Wildkräuter für ihre Speisen zu sammeln. Ein Stück weit ist es für sie auch ein Kraftplatz. Hier kommt Theresia Palmetzhofer wenn gerne alleine her.

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Sie wuchs im familiengeführten Gasthaus auf. Und es war für Palmetzhofer früh klar, dass sie in die Fußstapfen der Eltern treten würde. So besuchte sie die Tourismusschule in St. Pölten und ging dann für ein halbes Jahr nach Italien. Um zu reisen, das Land zu entdecken und natürlich auch um sich mit der italienischen Küche vertraut zu machen. Sie besuchte vor Ort Kochkurse. Die Pasta, die sie heute ihren Gästen serviert, stellt sie - wie vieles andere auch - selbst her. Es folgte nach Italien noch eine Station. Diese führte sie nach Wien, wo sie bei Konstantin Filippou unter anderen als Sous Chefin viele Jahre gekocht hat. 2015 kehrte sie in den Heimathafen in Neuhofen an der Ybbs zurück.
Darüber sagt sie selbst:

„Das Gasthaus der Familie links liegen zu lassen, war für mich keine Option."

Palmetzhofer sagt das mit Überzeugung. Man glaubt ihr, denn zum einen steht sie vor dir in ihrer Kochjacke und zum anderen spürst du die Leidenschaft für lukullische Momente bei ihr. Auch wenn gerade die Gastronomie geschlossen ist, so wird in der Küche gearbeitet. Es ist nicht Click & Collect, bei Palmetzhofer ist es Collect & Eat: Abholservice. Während wir am Bach fotografieren schmorrt ein Bradl im Rohr. Der Lehrling trägt die Verantwortung während ihrer Abwesenheit. Einmal ruft er während unseres Shootings an und erkundigt sich, ob der Braten schon raus darf. Nein, er soll noch etwas schmorren. Aber zurück an den Bach, zum Bärlauch dessen zarte Spitzen sich der Sonne empor stemmen.
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Die Geräuschkulisse an diesem Ort ist reduziert auf den Auslöser von Michaels Kamera, das Rauschen des Baches, das Knacken der Äste beim Gehen - und drei Hühner die vorbei spazieren. Theresia Palmetzhofer weist uns darauf hin, dass die Hühner zum Hausberger-Bauern gehören, dessen Hof gleich angegrenzt. Wir tauschen das Waldstück gegen die Kulisse vorm Dörrhaus beim Bauern. Es ist ein verlassenes altes Gebäude. Man erahnt die Geschichte, die Gezeiten, die dieses Haus erlebt hat. Hier hat man früher die Birnen gedörrt. Für das Kletzenbrot an Weihnachten. Fast jeder größere Hof im Mostviertel hat so ein Häuschen.

"Für uns war dieses Dörrhaus immer ein gruseliger Ort. Wir dachten als Kinder, hier wäre eine Hexe beheimatet und haben meist einen großen Bogen darum gemacht", erzählt sie. Unweit von uns gackern Leos Hühner. Wir entschließen uns, die Hühner mit ins Foto zu holen. Leo hilft uns dabei. Im nächsten Augenblick bereits hat Palmetzhofer ein Huhn auf den Armen. Beide posieren für unsere Botschafter-Kampagne: Theresia und Huhn. Bevor wir gehen deponieren Leo und seine Frau noch eine Pizza Rusticana-Bestellung für Montag Mittag zur Abholung bei der Köchin.
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Heimat, das ist für die Köchin auch ein Ort des Wohlbefindens. Da, wo es einen gut geht. Die letzten Monate haben ihr gezeigt, wie enorm wichtig Regionalität ist. Sie spielt dieses Thema an ihre Kunden zurück, in dem sie vorwiegend Lebensmittel mit Bezug zur Region und Österreich verarbeitet. Das Fleisch aus Hohenlehen, der Fisch aus Mariazell, die Eier von sehr glücklichen Hühnern ihrer Tante. Alles bio. Ihre Lieferanten kennt sie beim Namen. "Das Angebot wird sehr gut angenommen. Meine Stammgäste geben mir Kraft. Es gibt Menschen, die fahren eine gute halbe Stunde, um sich bei mir ihre Speisen zu holen", sagt sie. Zurecht stolz. Hier kommt die Loyalität durch: Füreinander bedeutet für Palmetzhofer Loyalität.

Nach dem Shooting setzen wir uns auf der Terrasse der Familie zusammen. Die Mama hat heute Geburtstag. Die Katze macht es sich am Fotoequipment von Michael gemütlich. Palmetzhofer und ich trinken Kaffee und plaudern. Zum Einstieg zieht sie drei Fragen aus der mitgebrachten Box. Auf den ersten Zettel steht eine Volltreffer-Frage: Das esse ich am liebsten. Die Antwort kommt nicht wie erwartet aus der Pistole geschossen. Man spürt, dass es im Kopf der Gastronomin rattert. Da gibt es so viele Möglichkeiten. Sie entscheidet sich aber für den Überbegriff Hausmannskost. Und bricht diesen dann auf Bauerngeselchtes mit Spachtelkraut und Grießknödel herunter.
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Auch der Scheiterhaufen der Mama wird gerne verzehrt. Bei all dem high-end Food, dass sie zubereitet, schätzt sie die bodenständige Kost. Wobei auch einem Carpaccio oder Beef Tartare ist sie nicht abgeneigt.
Am nächsten Zettel will ich wissen, wie ihr perfekter Tag aussieht. Zu meiner Überraschung beginnt dieser für Palmetzhofer mit laaange schlafen, mehreren Tassen Kaffee. Den Rest des Tages verbummelt sie gerne. Und abends mit Freunden Zeit verbringen - aktuell halt eher via Telefon oder im Zoom-Call. Wichtig ist, dass der Tag unter dem Prädikat stressfrei läuft. Dritter Zettel: Bist du verliebt? “Nein!”

In den gut zwei Stunden, die ich mit Theresia Palmetzhofer verbringen durfte, ergab sich für mich das Bild einer Person, die sich bewusst für die Heimat und ihre Wurzeln entschieden hat. Die mutig ist und sich nicht beirren lässt.

Monika Rosenfellner

Es ist Anfang Mai und das Wetter kann sich zwischen Sonne und Regen nicht eindeutig entscheiden. Wir treffen Monika Rosenfellner bei sich Zuhause in St. Peter in der Au.

Es duftet herrlich nach frisch vermahlenem Getreide. Michael und ich finden den Garten toll. Vor allem diesen einen wunderschönen alten Baum. Von der Seniorchefin erfahren wir, dass dies ein ganz besonderer Baum ist: Cercidiphyllum japonicum. Oder einfach Lebkuchenbaum.
In der komfortablen Holzhütte im Garten setzen wir uns zusammen. Die Müllerin aus Leidenschaft macht noch schnell ein Feuer, denn es ist doch etwas frisch. Auch Mühlenkater Findus gesellt sich zu uns, während wir über Heimat sprechen.
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Ja, es gibt noch Menschen, die das Müllerhandwerk ausführen. Eine davon ist Monika Rosenfellner. Sie führt es mit Leidenschaft und Hingabe aus - in dritter Generation. Wir haben sie als Botschafterin ausgewählt und zum Foto-Shooting und Gespräch getroffen.

Wie bei jedem Gespräch bitte ich drei Zettel aus meiner Fragenbox zu ziehen und diese spontan zu beantworten. Der erste Zettel fordert auf, den perfekten Tag zu beschreiben: "Ich habe gut geschlafen, starte entspannt und mit viel Ruhe bei einer Tasse Kräutertee in den Tag. Am liebsten sind mir Sonnentage. Einen perfekten freien Tag verbringe ich in der Natur beim Wandern." Auf Zettel zwei möchten wir wissen, was sie am liebsten ißt. Die Antwort kommt rasch: Gemüse und ein gutes Stück Brot. Ich hake nach: welches Brot? Ein Vorschussbrot oder ein saftiges Roggen-Vollkornbrot hat die Müllerin am liebsten. Am letzten Zettel gilt es einen Satz zu vervollständigen: Das geht immer ... gut! Schießt es wie aus der Pistole.
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Monika Rosenfellner verkörpert Heimat. Wenn sie davon und von der Natur spricht, macht sich ein Leuchten in ihren Augen breit, ihre Stimme wird sanft und leicht - sie beginnt zu strahlen. Sie lebt und arbeitet am gleichen Stück Erde. Dieses Stück ist ihre angeborene Heimat in St. Peter in der Au.

Sie ist Mostviertlerin, hier geboren und aufgewachsen. Es hat sie auch in die Ferne gezogen, aber die Heimkehr war stets besonders. Das Nachhausekommen hat sie geschätzt, weil durch das Wegsein Wertschätzung und Dankbarkeit für die Heimat bei ihr entstanden.

Monika Rosenfellner verkörpert Heimat. Wenn sie davon und von der Natur spricht, macht sich ein Leuchten in ihren Augen breit, ihre Stimme wird sanft und leicht - sie beginnt zu strahlen. Sie lebt und arbeitet am gleichen Stück Erde. Dieses Stück ist ihre angeborene Heimat in St. Peter in der Au.Sie ist Mostviertlerin, hier geboren und aufgewachsen. Es hat sie auch in die Ferne gezogen, aber die Heimkehr war stets besonders. Das Nachhausekommen hat sie geschätzt, weil durch das Wegsein Wertschätzung und Dankbarkeit für die Heimat bei ihr entstanden.
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Heimat, das ist wohl ein stückweit auch ihr Beruf: Müllerin. Der Mühlenbetrieb wird heute in dritter Generation geführt. Der Großvater legte den Grundstein, Monikas Vater übernahm und nun ist sie die Chefin.
Müllerin, das wollte sie schon immer werden. Es hätte nicht zwingend im eigenen Betrieb sein müssen. Für Monika Rosenfellner wäre es auch okay gewesen, wenn eine der vier Schwestern die Mühle übernommen hätte.
"Ich selbst hatte nicht den Anspruch, unseren Familienbetrieb zu übernehmen. Ich liebe meinen Beruf, war aber auch offen für neue Wege", erklärt sie im Gespräch. Am Ende hat sie sich doch für die Fußstapfen des Vaters entschieden - sehr zu dessen Freude.

Der Garten, in dem wir sitzen und uns unterhalten ist primär privat. Ein perfektes Idyll und ideales Rückzugsgebiet. Knochige, knorpelige Bäume, die viele Geschichten erzählen könnten. Bäume, die mitunter schon vor der Unternehmerin hier waren.

In diesem Garten, an diesem Ort hat Monika Rosenfellner gemeinsam mit ihren Schwestern viele schöne Erinnerungen aus der Kindheit gesammelt. Wenn sie alle zusammen waren, darunter auch eine Vielzahl an Cousins und Cousinnen, haben die Kinder “Schneider, Schneider leih’ mir deine Schere” gespielt. Ein dynamisches Spiel, bei dem auch Bäume eine wichtige Rolle haben.
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Ich frage die Müllerin, ob sie manchmal damit hadert, am selben Stück Erde zu leben und zu arbeiten. Vor allem wegen der Abgrenzung. Es stört sie nicht, immer mehr oder weniger mitten im Geschehen zu sein. Die Abgrenzung gelingt ihr auch hier und am besten in diesem prächtigen Garten, wo sie im Sommer gerne in der Hängematte bei einem Buch Ruhe findet.

Mit der Natur ist die Müllerin eng verbunden. Nicht nur weil sie deren wertvollen Geschenk, das Getreide, sorgsam verarbeitet und zu köstlichen Mehlen, Malzen und vielemmehr verarbeitet, sondern weil sie sich in der Natur erholt und aus ihr die Kraft schöpft. Für sich selbst, für ihre Arbeit und für neue Produktideen. Monika ist überzeugt, Kraft kann jeder schöpfen, wenn er entspannt und aufmerksam ist.

„Man soll dort glücklich sein, wo man sich wohl fühlt und wo man für sich selbst Heimat findet.”


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Heimat, das ist in den Augen der erfolgreichen Unternehmerin etwas sehr Persönliches, denn jeder hat ein anderes Gefühl zu der eigenen Heimat. Für sie selbst ist Heimat, sie selbst im Herzen. Von dort, ihrer Heimat, startet sie täglich in den Tag und kehrt am Ende auch dorthin wieder zurück.

Sieglinde Sterlinger

Ich treffe auf eine Frau, die mir im Gespräch immer vertrauter wird. Die so viele Geschichten zu erzählen hat, die das Leben für sie geschrieben hat. Die offen über ihre Familie, ihren Werdegang und ihr Leben spricht.

Es ist berührend und am Ende bitte ich Sieglinde Sterlinger, bei Zeiten alles aufzuschreiben, denn die Lebensgeschichte dieser Frau ist bemerkenswert. Bevor wir uns tatsächlich verabschieden, sind die Aufnahmegeräte bereits ausgeschalten. Wir aber, wir stehen noch eine halbe Stunde am Hauseingang und reden einfach weiter.

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Geboren 1941 mitten in den Krieg hinein. Es ist wahrlich keine leichte Zeit. Sieglinde Sterlinger erinnert sich daran, dass die Fenster keine Scheiben mehr hatten. Eine Bombe die nur ein Stück vom Haus entfernt eingeschlagen hat, hat alles zum Bersten gebracht. Zu Kriegsende brennt nur einen Steinwurf entfernt ein Panzer. Drei Tage lang. Als einmal nachts die Russen kommen wirft sich die Mutter über die Kinder und stopft sich eine Decke in den Mund. Weil ihre Zähne vor Angst dermaßen geklappert haben.

Der Vater verlässt die Familie, die Mutter arbeitet in einer Kistenfabrik und lebt mit den beiden Kindern im Haus in der Waidhofner Teichgasse. Hier in diesem Haus führen wir das Interview, denn Sterlinger lebt nach wie vor hier. Es ist für sie Heimat. Hier hat sie einen prächtigen Garten angelegt in welchem sich Hühner tummeln. Die Katze macht es sich auf der Wohnzimmerbank gemütlich und ist ihr treuer Lebensbegleiter.
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Sieglinde Sterlinger hat Seilerin gelernt. In Wien-Penzing. Ihr Lehrmeister, der Herr Josef wollte eigentlich kein Mädchen. Aber die Auftragslage war üppig, Arbeitskraft weniger. So verbrachte sie als junge Frau mehrere Jahre in Wien ehe sie in Wels die Gesellenjahre absolvierte und dann zurück in Waidhofen die Werkstatt übernahm.

„Als junges Mädchen, am Ende meiner Ausbildung standen mir viele Türen offen. Aber ich wollte einfach Nachhause.”

Zur Meisterprüfung trat sie mit zwei Männern an. Heute könnte sie den Meistertitel tragen.
Das Handwerk hat der Großvater, ein Sudetendeutscher, in die Familie gebracht. Es war sein Wunsch, wenn er einmal sterben würde, dann solle er in der Werkstatt aufgebahrt werden. Dieser Wille geschah.
Parallel zur Seilerei betreibt die rüstige 80-jährige in der Innenstadt noch die Trödelstube. "Ich war schon immer kreativ, wohl eine Gabe, die ich von der Mutter habe", sagt sie und erklärt damit auch unbewusst, warum sie diese Art von Geschäft betreibt. Ihr Laden am Unteren Stadtplatz ist ein Potpourri an so Vielem. Aber man findet was man sucht. Ich durfte dies schon mehrfach selbst erfahren. Aber ursprünglich war das Geschäft die Seilerei, denn über den Sommer über wurden fürs "Heufadeln" Bindeseile hergestellt. Ab 1978 kamen Dekowaren hinzu und so hat sich das Sortiment sukzessive weiterentwickelt.
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Sterlinger heiratet, aber die Ehe wird drei Jahre später geschieden. Da ist sie gegen Ende 20. Alle Freundinnen und Bekannte fahren da schon mit Kinderwägen durch die Nachbarschaft. Dieser Wunsch erfüllt sich für sie nicht. Mit 27 heuert sie bei der Baronesse Clarisse, eine Rothschild an. Die Damen verstehen sich gut und Sterlinger, die von der Adeligen Linde genannt wird, geht mit nach Lausanne. Dort bekocht sie die Familie, der Chauffeur Helmut darf servieren.

Die Grundkenntnisse dafür hat er aus Sterlingers Kochbuch. Die Zeit fern der Heimat hat sie geheilt, vom Auseinanderbrechen der Ehe: “Ich war an einem Nullpunkt in meinem Leben.” Aber der nächste Schicksalsschlag lässt leider nicht lange auf sich warten: ihre geliebte Mutter, die für sie auch Freundin war, verliert sie, als sie dreißig Jahre alt ist.
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Mit dem Haus, in welchem sie geboren wurde, in welchem sie aufgewachsen ist, in welchem sie so viel erlebt hat, fühlt sie sich verbunden, ohne es groß erklären zu können. Aber das tut auch nichts zur Sache, denn es braucht für diese Gefühl keine Erklärung.

"Wenn ich heute aus dem Haus müsste und ich würde es noch mitbekommen, ich würde binnen acht Tagen an gebrochenem Herzen sterben", sagt Sterlinger. Sie selbst empfindet diese Aussage als überheblich. Ich widerspreche ihr, denn es ist eine sehr schöne, sehr ehrliche Aussage. Denn an der eigenen Definition von Heimat, an diesem Gefühl, da gibt es kein richtig oder falsch. Da gibt es nur die Existenz und die darf, kann und soll jeder für sich zulassen und wahrnehmen.

Wir verabschieden uns eine gute halbe Stunde nachdem ich das Aufnahmegerät eingepackt habe.

Friedrich Riess

Morgens machst du dir im Schnabeltopf von Riess Emaille die Milch warm, vormittags triffst du den Geschäftsführer und sprichst mit ihm über Heimat – mit Friedrich Riess am Sonntagberg.

Als ich zum Termin eintreffe ist er schon da: Mein heutiger Gesprächspartner und unser Botschafter Friedrich Riess. Er ist Unternehmer, führt in neunter Generation Riess Kelomat in Ybbsitz. Ein Traditionsunternehmen, dessen Wurzeln bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts zurückreichen. Etwas älter ist die Basilika Sonntagberg, wo wir verabredet sind. Auch Fotograf Michael ist schon da.

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Der Wettergott ist an diesem Aprilsamstag mit uns gnädig: Föhn und Sonne. Und eine Weitsicht Richtung Norden, Osten, Süden und Westen. Das Mostviertel breitet sich unter uns aus. Michael möchte erst das Interview machen, dann das Portrait fotografieren. Also machen wir uns auf die Suche nach einem geeigneten Platz. Und landen am Spielplatz. Ich beginne mich für das Interview häuslich einzurichten. Kurzes Briefing an Friedrich Riess, dann geht es los. Auch er muss drei Fragen aus meiner Box ziehen.

Die erste Frage lautet „Mit wem würdest du gerne einen Abend verbringen?“. Meine Anregung, spontan zu antworten nimmt der Unternehmenschef ernst: “Ganz spontan mit niemand Externen. Ich bin ein Familienmensch und immer sehr glücklich, wenn ich meine Zeit mit meiner Familie verbringen kann. Hier im wunderbaren Mostviertel.”

Die zweite Frage: Was macht dich sprachlos?Sprachlos, das sei bei ihm etwas schwierig, denn er ist eine Quatschtante und nicht sehr einfach sprachlos zu machen: “Aber das, was in letzter Zeit der Pandemie vor sich geht, Menschen die die Regeln nicht beachten und einhalten und und und”, dass macht ihn sprachlos.
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Die letzte Frage ist keine wirkliche Frage, eher eine Satzvervollständigung: Das esse ich am liebsten! Riess isst am liebsten regionale Speisen und es muss nicht täglich Fleisch am Teller sein. Er sei kein Vegetarier, aber ein oder zwei Mal die Woche Fleisch und Fisch reichen. Süßspeisen ist er nicht abgeneigt. An diesem Samstag soll es bei ihm Zuhause jedenfalls noch Fleisch geben: Putenschnitzerl in einer Cornflakes-Panier. Aber erst wird nachmittags gemeinsam mit seiner Frau im Garten gewerkt

Friedrich Riess ist einer der drei geschäftsführenden Gesellschafter der Firma Riess Kelomat. Als Pfannenschmiede existiert der Betrieb seit 1550 in Ybbsitz. Seit 1922 wird emailliert. Seit 1926 sind sie energieautark. Ursprünglich sind die Riess’ aus Steyr.

Er ist in Ybbsitz geboren und aufgewachsen; die Schule wurde zum Teil in Waidhofen an der Ybbs absolviert, an der HTL für Betriebstechnik in Vöcklabruck wurde sie abgeschlossen. Das war 1974. Ein Jahr später starb ein Onkel und “so bin ich ins Unternehmen eingetreten worden“, so beschreibt Friedrich Riess es selbst. Wenige Jahre später verlässt er das Familienunternehmen und arbeitet für große, renommierte Unternehmen wie z.B. für den Schreibwarenhersteller Faber Castell. Auch in die Lebensmittelindustrie führt ihn ein Karrierestopp. 1992 kehrt er ins Familienunternehmen zurück.

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Weil er so viel unterwegs war, kennt er das Mostviertel und die Menschen nicht ganz so gut wie seine Frau. Er kenne zwar viele und Vieles vom Hörensagen her, aber seine Frau, die ist, was das Mostviertel betrifft, fitter.

Für beide ist der Sonntagberg ein ganz besonderer Ort. Hier gaben sie sich vor 47 Jahren das Ja-Wort. Hier kommen sie her um Kraft zu tanken. Auch seine Eltern haben hier den Bund fürs Leben geschlossen. Friedrich Riess hat somit mehrere Bezüge zum Sonntagberg. „Die Basilika Sonntagberg ist eines der bedeutendsten Kirchenobjekte in der Region. Sie ist in alle vier Himmelsrichtungen gut zu sehen. Ein herrlicher Ort“, erzählt er. Kunden und Freunde werden hierher entführt und begeistern sich schnell für dieses Stück Erde.
Ich frage ihn, wie alle Botschafter, wie es ihm an diesem Ort geht.

„Mir geht es an diesem Ort sehr gut. Ein extremer Kraftplatz“,

schießt es aus Friedrich Riess. Hier erholt er sich bei einem Spaziergang oder einer Andacht in der Basilika. Oder auch bei einer der vielen kulturellen Veranstaltungen in der Basilika: „Die Akustik ist erbauend!“. Etwas mahnend ergänzt er: „Jeder, der noch nicht hier war und die Kraft des Ortes getankt hat, ist selber schuld.“
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Was bedeutet also Heimat für jemanden, der hier geboren ist und ein Unternehmen führt, dass seit 471 Jahren mit der Region eng verbunden ist? Für Friedrich Riess ist Heimat ein Begriff, der besagt, wo er Zuhause ist. Wo er Familie und Freunde hat. Wo er emotional gebunden ist und wo in der Region Kultur ist. Das empfindet er auch vor allem wegen der Eisenstraße, die sich durch einen Teil des Mostviertels zieht. Heimat ist für ihn aber auch die Beantwortung von, wo es Geborgenheit gibt und wo man in Zufriedenheit leben kann. Und, wo ich willkommen bin.

Wenn man ein Unternehmen führt, das seit Jahrhunderten hier Menschen Arbeit und Wohlstand verschafft, gibt es da auch eine zusätzliche Verbundenheit mit der Heimat? Friedrich Riess: „Ja, natürlich! Es ist nicht einfach mit so einer Geschichte und Tradition zu leben. Dieses zu lieben und zu verteidigen in einer Zeit, wo die Werte ganz woanders liegen.“ Er versucht die Werte und Traditionen hochleben zu lassen und vergleicht das mit einem Pendel: mal schlägt es stärker in die eine, mal in die andere Richtung. “Man darf sich nicht abbringen lassen.”
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Riess stellt Produkte her, die vielen Menschen dienlich und weltweit in vielen Küchen vertreten sind. Für ihn ist jedes Stück Riess Emaille ein Stück Freude das in die Welt hinausgeht. Es kommt durchaus vor, dass das Unternehmen Zuschriften erhält, von Menschen aus der Region, die in die Ferne reisen und dort einen Topf, ein Häferl oder eine Pfanne aus Ybbsitz entdecken.
„Die Menschen denken dann an Heimat. Ich glaube nicht, dass es viele Produkte gibt, die Heimat im Ausland vermitteln können“, sagt er nüchtern, aber auch stolz.

Als Unternehmer mit einer so langen Geschichte, fühlt er sich da auch verpflichtet Heimat zu erhalten, zu bewahren? Eine Frage, die man stellen muss, wenn man mit einem regionalen Unternehmer über Heimat spricht. Es könnte ihm ja auch egal sein. Friedrich Riess ist es das aber nicht:

„Ja, ich sehe mich in der Verantwortung Heimat zu erhalten und zu bewahren. Das Thema der Regionalität ist hier zentral."

Sichtbar wird das, dass das Unternehmen nie abgewandert ist. Um zum Beispiel billiger zu produzieren und um damit die eigene Gewinnspanne zu maximieren. „Die Menschen können sich auf uns verlassen. Bei uns arbeiten Familien – seit Generationen“, erzählt er stolz.

Wir nähern uns dem Schluss des Gesprächs. Was etwas schwierig ist, weil Friedrich Riess wirklich gerne redet. Und ich höre ihm zu, nicke und gebe an mancher Stelle meine Sicht der Dinge.

Die zweieinhalb Stunden mit Friedrich Riess vergingen wie im Flug. Und kein Moment war still.




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Birgit Wagner ist Kommunikations-Allrounderin. Ihr Angebot umschreibt sie als Bauchladen mit einer Vielzahl an Kommunikationsservices. Sie zeichnet für das verantwortlich, was Sie hier und andererorts über das Projekt HEIMAT X MENSCH lesen werden.